Die ganze Welt ist unser Garten

Mai 27, 2022

Vorhin, na gut jetzt schon vor einer ganzen Weile, hat uns unser Nachbar im Flur abgefangen und verkündet, dass er auszieht. Vor ein paar Monaten hatte er es schon mal so halbwegs angedeutet, also dass er was anderes suche, in einem anderen Stadtteil und mit Balkon und so, aber dass es nun doch so schnell ging, damit hatte ich nicht gerechnet.
Die beiden, die offensichtlich zur Besichtigung der alten Wohnung da waren und mit ihm im Hausflur standen, rochen zumindest, na sagen wir mal ‚intensiv‘. Mehr kann man ja immer nicht zu so potentiellen Nachmietnachbarn sagen. Das Getrommel von oben werden wir höchstwahrscheinlich nicht vermissen – aber hellhörig sind die Wohnungen halt – das haben wir wohl alle feststellen müssen.

Was soll’s, die Ohropax haben wir eh immer im Gepäck und wenn man unter einem mobilen Dach schläft, dann ist die Geräuschkulisse auch eh noch mal eine ganz andere. Das frühe Vogelgezwitscher oder der prasselnde Regen, wie letzte Woche, als wir unsere erste Nacht im Van verbrachten – das ist einfach unschlagbar! Also klar, solange es warm und trocken ist natürlich, während draußen ein Unwetter erst Regen, dann Hagel und fiesen Westwind gegen die Vanwände peitscht. Als würde der Wind ein Boot sanft in den Wellen hin und her wiegen – wie auf einer Expedition in neue Kapitel.

Entdecker auf dem Weg nach Gotland

Da kommen dann unweigerlich Erinnerungen an fieskühle Nächte in Zelten auf, die man als Kind oder Jugendlicher mit Freunden auf Luftmatratzen und in dicke Schlafsäcke gemummelt verbracht hat. Mitunter von oben UND unten nass und voller Vorfreude, gar Sehnsucht auf sein warmes Bett zu Hause. Man verbrachte unzählige Tage draußen im Wald, am Meer mit Sand unter den Füßen oder weitem Blick über die Berge. Und sammelten schon damals die wichtigen Bilder, die man nur mit dem Herzen sammelt. Bilder, die wir heute als Landkarte, als inneren Kompass nutzen. Gefühle, Geschmäcker, die uns an die wunderbarsten Orte dieser Welt erinnern. Die uns aufbrechen lassen, noch viele weitere zu sammeln und die uns zeigen, dass unser Weg richtig ist.
Wir stehen immer noch windgepeitscht an besonderen Orten und versuchen ihre Magie einzufangen. Wir halten LIV fest und geben uns die Chance mit ein wenig Zeit die Welt mit anderen Augen zu entdecken. Nicht über den digitalen Bildschirm am Handy oder der Kamera, sondern ohne Sucher und mit Lochblende der selbstgebauten Camera Obscura. Das erdet und beruhigt. Ich könnte ewig nach dem perfekten Winkel suchen, dabei auf Felsen klettern oder auf den Knien herumrutschen. Ich vergesse den ganzen anderen Mist um mich herum und weiß, dass sich der Weg lohnt.

LIV vor den großartigen Raukar auf Gotland positionieren.

Manchmal müssen wir lange gehen, mit all dem Equipment. Die Arme werden uns lang vom schweren Stativ, auf dem Rücken und über den Schultern verteilt tragen wir Kameras, von denen wir vorher noch nicht wissen, welche an jenem Ort zum Einsatz kommt. Jeder Ort ist anders. Will anders betrachtet werden. Und erzählt durch jedes Medium eine ganz andere, eigene Geschichte.
Ein und das selbe Motiv mal auf Negativfilm gebannt, mal auf Direct Positiv Papier. Dia-Film, Kleinbild, Mittel-, oder Großformat. Ich seh’ die Welt, wie sie mir gefällt. Oder so. Oder wie sie sich selbst gefällt vielleicht. Ich freue mich über die vielen Dinge, die man entdeckt, wenn man andere Perspektiven einnimmt. Wenn man aus der Komfortzone heraus tritt und der Welt vielleicht ein kleines bisschen von ihrem Zauber abringen kann. Und wenn man dazu ein paar Stunden an eben diesem einen Ort verbringen muss, dann tue ich das gerne. Und wenn Frank mir dann auf dem Weg zum Einkaufen sagt: „Hm, Wohnung mit Balkon, wir haben den Van und die ganze Welt ist unser Garten!“ Dann kann ich ihn immer noch nur ein wenig ungläubig anlachen und mich wie in kleines Kind freuen, dass all die Fäden, die wir seit ein paar Jahren, trotz aller Widrigkeiten, stetig versucht haben weiter zu spinnen nun endlich alle ineinander gewoben Halt und uns die Möglichkeit für eine ganz neue Art des Bildermachens geben…

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Schweden I
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Mal ganz ohne Plan

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